Und genau so sollte es auch sein. Er ließ sie sich hinlegen und nahm ein Pulver aus dem Schrank, den er nicht vollkommen zerstört hatte. Er löste es in etwas auf und gab es ihr zu trinken. Er selbst setzte sich neben sie und sagte: „Verzeih mir…“ Er legte seine Hand auf ihre Stirn und schon gingen ihre Lichter aus. Und als sie die Augen das nächste Mal öffnete steckte sie in Varus Erinnerungen. Sie als moderne Frau wusste, dass die Menschen es mittlerweile geschafft hatten, den Himmel zu erobern. Wie aber hätte dieser Anblick für jemanden aus Varus Zeit sein müssen? Sie flog hoch über den Wolken und tauchte nun gerade durch diese hindurch. Unter ihr war die weite grüne Welt. Bäume, Wiesen, Flüsse und Berge. Kaum Zivilisation und die Luft! Sie konnte eine Luft atmen, wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie spürte ihre mächtigen Schwingen, die sie durch die Luft trugen und eben vollführte sie voller Übermut eine Drehung, die den Horizont einmal herum wirbelte. Ihr Herz schlug so frei und unbeschwert und sie glaubte, sie habe sich niemals in ihrem Leben besser gefühlt.
Dann landete sie in einem kleinen Dorf. Die Menschen schienen nicht erstaunt und sie merkte schnell, dass sie sie gar nicht sahen. Sie lief durch das Dorf und sah sich neugierig um. Isabella hatte kaum eine Vorstellung von der Welt damals, aber es war auf jeden Fall schmutziger, als man es sich vorstellte. Dennoch waren die Menschen scheinbar glücklich und dann blieb ihr Blick auf einer jungen Frau hängen. Sie pflegte gerade einen Garten und summte ein Lied dabei. Langsam ging sie auf sie zu und sie beobachtete sie eine ganze Weile. Scheinbar konnte sie sich kaum satt sehen.
Isabella sah diese Frau nun in verschiedenen Situationen, aber immer wieder tauchte sie auf und sie spürte, wie sie sich so sehr zu ihr hingezogen fühlte, dass sie es kaum noch aushielt, aber sie wurde nie von dieser Frau gesehen.
Schließlich stand sie vor einem Mann. Er hatte goldene Augen und wundervolle goldweiße Flügel. „Was möchtest du?“, fragte der wunderschöne Mann, dem sie sogleich enormen Respekt zollen wollte. Sie verbneigte sich: „Ich möchte die Erde besuchen.“
„Du tust den lieben langen Tag nichts anderes. Wieso brauchst du jetzt meine Erlaubnis?“
„Nein. Ich meine, ich möchte sie körperlich besuchen.“
Erst jetzt begriff Isabella auch, dass sie nicht sie selbst war. Sie erkannte aber seine Stimme und jetzt verstand sie auch, dass das hier Varus Erinnerungen waren und nicht ihre. Trotzdem immer wieder glitt sie in seine Bewusstseinsebene hinab und nahm alles genau so war, wie er eben. Selbst die Gefühle.
„Das geht nicht und das weißt du auch.“
„Aber es gibt doch auch Ausnahmen!“, flehte sie nun. Der Mann musterte ihn erneut. „Ja, in dringenden Fällen. Weshalb willst du denn auf die Erde?“ „Ich… kann es nicht sagen.“ Nein… Er hatte schreckliche Angst, dass diese Leute hier, die junge Frau vernichten würden, wenn sie es erfahren würden, dass er sie über die Maßen liebte. „Dann kann ich deinem Wunsch auch nicht entsprechen.“ „Aber ihr habt schon einmal jemanden zu Fleisch werden lassen!“
„Nein heißt nein! Finde dich damit ab! Und jetzt geh, ich habe wichtigeres zu tun. Und denk an meine Worte… Die Ordnung steht über allem.“
Isabella verließ den Raum und ging einen weißen Flur entlang. Tränen traten ihr in die Augen und schließlich stand sie vor einer weiteren Person. Einer Frau, wie es schien. Sie sah ebenso Übermenschlich aus, wie der Mann eben. Goldene Linien verzierten ihr Gesicht und ihre Haare. Ihre Flügel waren weiß, aber bunte Federn durchsetzen diese Flügel. „Was ist denn los? Wieso weinst du denn?“, fragte sie und nahm Isabella in den Arm. Sie erzählte dieser Frau alles. Von dem Mädchen, dass sie sie liebte und dass es so weh tat, dass sie nicht mehr wusste, was sie noch tun sollte. Das Fliegen machte ihr keinen Spaß mehr, die Welt hatte an Farbe verloren und überhaupt machte das alles doch gar keinen Sinn mehr.
„Deine Gedanken sind sündig! Was du begehrst ist Chos!“, sagte die Frau schließlich und Isabella fühlte sich derart verraten, dass sie es nicht in Worte fassen konnte, sie bat die Frau, es niemandem zu erzählen, doch der eiserne Blick, sagte schon alles.
Erneut wechselte die Szene. Isabella fand sich wieder auf der Erde. Noch immer Unsichtbar, doch vor ihr lag – ebenfalls unsichtbar vor den Menschen – eine geflügelte Gestalt. Die Federn waren von schönstem violett und grün durchsetzt. Doch die Gestalt war eben so tot wie schön. Blut klebte an ihren Händen. Ihr Blick ging zu der jungen Frau, die dort wieder im Garten saß und die angebauten Pflanzen pflegte. Sie hatte diese geflügelte Gestalt aufgehalten, dieser Frau das Leben zu nehmen und nun verbrannte sie sie zu Asche. Purpurnes Feuer verzehrte den Leib gänzlich und niemand würde es erfahren…
Sie breitete nun die Schwingen und flog über das Land und an irgendeinem Punkt tauchte sie durch ein Portal. Sie fand sich in einer anderen Welt wieder und landete auf dem kargen dunklen Fels. Überall wirbelten Dinge durch die Luft. Der Himmel war rot, aber er änderte sich andauernd in eine Neue Farbe. Der Boden veränderte die Form nach Belieben und hin und wieder zuckten Blitze durch die Luft. Auch die Umgebung blieb nicht fest und es schien, als würde sie alle 5 Sekunden den Ort wechseln. Sie hatte Angst.
Letztlich stand sie vor einem Thron und auf diesem saß ein weiter Mann. Er hatte blutrote Augen und sah einfach auf ihn herab. „Wie kommt es, dass du vor meinem Thron stehst?“, fragte er. Er grinste nun. „Was führt dich ins Chaos, hm?“
„Ich will auf Erden wandeln!“, sagte Isabella nun mutig, merkte aber, wie ihre Stimme zitterte. „So? Willst du das? Und wieso fragst du da mich und nicht deinen Herrn?“
„Er gestattet es nicht.“, sagte er der Wahrheit entsprechend. „Helft ihr mir?“
„Aber sicher doch. Wir halten nichts von der Aufrechterhaltung der Ordnung und irgendwelcher Regeln von da drüben. Und wir kümmern uns um all jene die Hilfe brauchen.“ „Wirklich?“ „Aber ja. Also…“, schnurrte er und stand auf. „Formuliere deinen Wunsch und ich erfülle ihn dir.“ Isabella wollte schreien, sie wusste, dass das hier ein riesengroßer Fehler war, aber sie konnte nichts tun. Denn sie war nur ein Zuschauer…
„Ich möchte auf Erden wandeln!“ Der Mann vor ihr grinste. Er breitete die Schwingen, die nichts weiter als Knochen zu sein schienen und sagte: „Dann sei es so…“
Er streckte die Hände aus und Isabella spürte, wie sie links und rechts von anderen gepackt wurde und schließlich packte man ihre Flügel. Sie schrie auf. Sie versuchte sich zu wehren und sie sah über die Schulter. Eine andere Gestalt schwang eine Sense hinab und der Schmerz der sie traf war unvorstellbar. Nicht nur der Körperliche Schmerz, der wirklich schlimm war, sondern auch der seelische. Als auch der zweite Flügel abgeschlagen war ließ man sie wieder los und sie weinte. Sie sah auf: „Wieso…?“
Und der Herrscher des Chaos antwortete ihr: „Du kannst nur durch einen Wink der Ordnung oder des Chaos auf Erden wandeln.“ Er hockte sich vor sie. „Und ICH bin nur ein bescheidener Diener des chaotischen… nun Gottes… Es gibt allerdings einen anderen Weg…“ Ein Portal öffnete sich neben ihr. „Du kannst als Mensch dort verweilen…“ Er grinste. „Ich nahm dir deinen Göttlichen Funken. Fort an sollst du deine unsterbliche Existenz auf Erden verbringen. Als Mensch. Und wenn du die Götter das nächste Mal anflehst, dir etwas zu erfüllen… so solltest du auf deine Wortwahl achten.“ Er warf Isabella durch das Tor, welches sich schloss. Durch die Tränen hindurch sah sie dabei zu und weinte bitterlich. Sie schrie in den Himmel, aber letztlich fielen ihr nur die Augen zu.
Als nächstes fand sie sich in einer Erinnerung wieder, in der sie in eben jenem Dorf war. Die Menschen sahen sie an, grüßten sie, schienen erstaunt, weil sie fremd war, aber sie lief zielstrebig auf das Haus der Gärtnerin zu. Sie musste es ihr sagen! Ihr Herz schlug bis zum Hals und es war trotz des Schmerzes voller Freude und Hoffnung. Sie blieb vor der Frau stehen, die die Melodie ihres Liedes unterbrach und sie fragend ansah. „Ja bitte?“
„Ich liebe dich.“, sagte sie voller Zuversicht und die Frau sah sie verstört an? „Was? Aber ihr kennt mich doch gar nicht.“ „Ich möchte mit dir zusammen sein!“ Doch so oft sie es auch versuchte… Egal, wie sie es ausdrückte, die Frau wurde nur immer ungehaltener und unzufriedener und schließlich wurde Isabella von einem Kerl, wie ein Schrank sogar geschlagen, vor das Dorf geschleift und verprügelt.
Erneut wurde alles schwarz und als nächstes, sah sie wie das Dorf in Schutt und Asche lag. Alle waren ausgelöscht, bis auf diese eine Frau, die er am Handgelenk hielt. „Eher sterbe ich, als mich DIR hinzugeben, du elendes MONSTER!!!“ Und sie machte wahr, was sie androhte. Sie rammte sich einen Holzspieß in die Brust und ließ Isabella mit den Worten zurück: „Ich… hasse dich… aus tiefster… Se…ele…“
Der Schmerz in Isabellas Brust war überwältigend und dann zerriss dieser Traum. Sie öffnete keuchend ihre echten Augen und spürte den Nachhall von Varus‘ Gefühlen und er saß neben ihr. Immer noch. Den Blick gesenkt. Eine Träne war seine Wange hinab gelaufen. Wie hätte ein Wesen von außerhalb dieser Welt verstehen können, wie Menschliche Gefühle funktionierten?