…
Ein Gefühl kroch über die Haut. Ein Gefühl... was für ein Gefühl mochte das sein? Kälte... Regen? Dann ein Geruch. Der Gestank des Todes und der Fäulnis. Woher kam dieser Geruch und dann ein Geräusch. Eine Stimme. Eine rufende Stimme! Was rief sie? Wer war sie?
Langsam gingen die Augen auf. Die ganze Luft und alles schien zu flimmern. Alles war schwarz-weiß und es schien als würden Ascheflocken durch die Luft fliegen. Dann noch eine Stimme. Sie schien direkt aus dem Herzen zu kommen. Zwölf Träume für die rote Königin, schlafend unter einem gekrönten Stein...
Was... ist das?
Elf blühende Dornen von ihren Brauen...
Lass... mich... in Ruhe!
Die Augen richteten sich auf etwas neues. Das Schwarz und Weiß verschwand nicht aber inmitten dieser eintönigen Hölle war etwas anderes. Etwas leuchtend rotes. Etwas unsäglich schönes.
„Durst...“ Die trockene brennende Kehle entließ dieses Wort so brutal, wie eine Wütende Meute durch die Straßen drängen würde. „So... viel Durst...“, erklang es wieder. Es war die eigene Stimme. Es war seine Stimme. Er sah sich um. Neben ihm eine Leiche. Erst jetzt wusste er es wieder. Er war ein Mensch. Ein Arzt. Zurückgekommen aus dem Krieg. Er war Feldarzt gewesen. Ja... Er war Jonathan. Jonathan Reid. Er war zurückgekehrt um seine Mutter zu sehen. Er erschrak sich fürchterlich, als ihm klar wurde, dass er in einem Massengrab lag. Sofort erhob er sich und krabbelte mehr oder weniger schnell und sehr unelegant aus dem Grab. Noch immer war da diese Stimme. Noch immer ein Rufen in der Nacht. Er ging auf das pulsierende rot zu. Das Rot, welches ihn so sehr rief. Er streckte die Hand aus und das Rufen intensivierte sich. Das rote Pulsieren umfing seinen Oberkörper und das Rufen wurde zu einer Stimme. „So... viel... Durst...“
Was in der Wirklichkeit geschah, war simpel. Jonathan Reid war ein junger Arzt, der im Krieg als Feldarzt die Verwundeten umsorgt hatte. Die Frontlinie hatte er kaum gesehen, auch wenn hin und wieder Scharfschütze im Feldlazarett geschlagen wurden. Er wusste, wie man eine Waffe benutzte und er wusste, wie schnell jemand sterben konnte. Aber letztlich war er zurückgekommen, um zu seiner Familie im West End zurückzukehren. Seine Mutter, seine Schwester und der treue Butler der Familie hatten einen Brief von ihm erhalten. Jetzt aber stand er vor einem Massengrab. Das rote Leuchten war ein Mensch. Und zwar nicht nur irgendein Mensch, sondern faktisch seine eigene Schwester. Sie sagte: „Oh Jonathan! Ich wusste, du bist nicht tot! Ich wusste es!“ Doch Jonathan hörte gar nicht zu. Er keuchte nur und von seinem Hals lief Blut herab. Es hatte das weiße Hemd vorn auf seiner Brust regelrecht eingefärbt. Und vor allem schien er sie gar nicht zu erkennen. „Ich habe jedes Krankenhaus und jedes Massengrab abgesucht. Aber nu nstehst du vor mir, oh lieber Bruder.“ Sie weinte leise und legte die Stirn an seine Brust.
Jonathan spürte das Brennen in seiner Kehle. Es war unerträglich und schließlich gewann der Instinkt der Bestie. Seine Zähne wurden entblößt und schlugen gierig in den Hals der Jungen Frau. Er trank und trank und saugte und schluckte. Er schloss die Augen und genoss es. Er trank so lange und hörte keine Schreie und kein Flehen. Die Welt gewann an Farbe und seine Augen durchstachen die Dunkelheit. Er legte ab, was auch immer in seinen Händen lag und sah sich verwirrt um. „Was... ist hier los?“
„Jonathan...“ Er sah hinab. „Was... hast du getan?“, fragte sie und Jonathan kniete sich hinab. „Mary!“ Er nahm sie in die Arme. „Nein... meine arme Mary! Was... habe ich...“ Er drückte ihr den Stoff seines Hemdes auf die Wunde. „Mary! Nein! Mary!“ Sie starb. Panisch schüttelte er sie leicht und dann fragte er erneut: „Großer Gott... was habe ich nur... getan? Das ist... ein Alptraum!“ Er hörte das Rufen von Leuten. „Da hinten! Da ist einer!“ Jonathan stand auf. „Nein... ich... bitte ich brauche... ich brauche Hifle!“ Ein Schuss ertönte und eine Kugel durchschlug seine Schulter. Jonathan hielt sie sich kurz und rannte dann panisch weg. „Das wollte ich nicht!“ Er rannte die Gasse hinunter und wich einem Kerl aus, der ihn mit einem Pflock angriff. „Bitte, ich brauche Hilfe!“
„Stirb! Blutsauger!“
„Wer sind sie! Bitte!“ Doch da war kein durchkommen. Er lief erneut davon und kam zu einer Lagerhalle, wo er sich erst mal verschanzte. Er blickte seine Schulter an. „Was... wollen die von mir?! Ich...“ Kopfschmerzen unterbrachen sein Denken, dann wurde die Tür eingetreten und erneut floh er vor den Leuten. Er wurde durch die Halbe Stadt gejagt und schließlich rannte er in eine Sackgasse. Er drehte sich um und jemand kam mit gezückter Waffe auf ihn zu. „Jetzt stirbst du...“ Jonathan hob die Hände. „Ich weiß... nicht was hier los ist!“ Der Mann feuerte, aber die Waffe schien defekt zu sein. Jonathan nutzte die Gelegenheit und packte ihn. „Bitte! So sagt mir doch... was wollen sie von mir? Wer sind sie?!“ Sie rangelten ein wenig und dabei traten sie hinter einer Mauer hervor. Die Sonne war bereits aufgegangen und nun, wo das Licht auf ihn schien spürte er eine unsägliche Qual. Er schrie leise auf und sah seine Unterarme an. Es war, als würde das Fleisch verbrennen. Er schrie erneut auf. „Die Sonne wird den Rest erledigen...“, sagte der Kerl und riss sich endlich los. Jonathan rettete sich zurück hinter die Mauer, wobei er dem Mann die Waffe entwendet hatte. Er brauchte einen Unterschlupf. „Was... ist das hier? Die Sonne... ah...“ Er rannte wieder los an der Mauer entlang in eine dunklere Gasse. Er brauchte ein Versteck. Er stolperte und krachte durch einen Bretterverschlag. Er fiel eine Treppe hinab und blieb in diesem Keller ausgestreckt liegen. Er stöhnte und keuchte. Dann sah er an sich herab. Ein großer Holzsplitter steckte in seinem Oberschenkel und kleinere in seinem linken Arm. Er schleppte sich zur Seite, weg von dem Loch, durch das das Licht von oben herein fiel und betrachtete sein Bein. Sogleich band er es mit seinem Gürtel ab und zog sein Hemd aus. Er zog den Splitter hervor und unterdrückte einen Schrei. Er wollte nicht gefunden werden! Diese Verletzung schmerzte fürchterlich, wohingegen der Durchschuss kaum weh tat. Er lehnte den Kopf an die Wand hinter sich und hielt sein Hemd auf die Wunde. Als er nun zu seiner Shculter sah, war dort nur noch ein dunkler Bluterguss. Hatte die Kugel doch nicht durch seine Schulter geschlagen? Er konnte nicht denken. Er musste in irgendeinem Keller eines Wohnhauses sein. Tränen liefen seine Wangen herab. „Oh, Mary... Das... kann nur ein Alptraum sein...“ Er betrachtete die Pistole in seiner Hand und setzte sie sich auf die Brust. „Es kann nicht anders sein...“ Er hatte den Hahn repariert und drückte ab. Augenblicklich gingen die Lichter aus.
Sein Blut lief hervor und mit jedem Herzschlag wurde es weniger und allmählich würde die Wunde heilen.