„Beobachtest du schon wieder Ragnars Sohn, Aya?“ Angesprochene saß vor sich hin schmachtend am Fenster des südlichen Rekrutenanbaus. Sie wendete den Blick zu ihrem Bruder und antwortete: „Er IST aber auch wie immer eine Augenweide.“ Dario – ihr Bruder – verdrehte die Augen und folgte ihrem Blick. Gemeinsam betrachteten sie nun den Hünen, der sein Nachmittagstraining absolvierte. Es war der zweite Frühlingsmonat und die Sonne wärmte schon die schwarzen Mauern, der düsteren Festung, die die Grenze zu den Schwarzen Landen bewachte. Seit einigen Tagen war der Aufklärungstrupp nun außerhalb der Mauern und man konnte dem Burschen, der dort trainierte förmlich ansehen, wie sehr er seinen Frust an den Armen Übungsgeräten ausließ, weil er mal wieder nicht hatte mitkommen dürfen.
„So stark er auch sein mag, so hol ist er in der Birne.“, spottete er nun und Aya bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick. „Du hast wohl einen Schwesterkomplex oder warum redest du ihn immer Schlecht? Von allen Rekruten, ist er der Beste! Du bist nur neidisch.“
„Pff. Wenn ich du wäre, würde ich mir lieber jemanden suchen, der sein Studium genauso ernst nimmt, wie seine Kampfkunst.“ Aya sah wieder hinab.
„Aber Drakon IST kein Idiot. Du verstehst ihn bloß nicht.“
„Aber du?“ Er grinste spitzbübisch. „Wie auch immer. Sag deinem Lieblingstrottel, dass es Essen gibt, wenn du unbedingt willst. Er hat schon wieder keinen Tischdienst gemacht. Ich an Ares Stelle würde ihm zur Strafe ja eher Bibliotheks-Strafen verpassen. Dann lernt er wenigstens noch was.“
„Haha. Was sind wir heute wieder lustig! Geh schon mal vor, ich sag’s ihm.“
Damit sprang sie auf und verließ ihr Zimmer. Sie lief durch die von Fackeln erhellten Gänge hinunter in den Innenhof des Trainingsgeländes. Sie hatte wie immer ihre schwarzen Rekrutensachen an, die aus einer leichten Hose und einem Hemd bestand. Darüber war eine schwarz gefärbte Ledermontur, an der Halterungen für Waffen und Gegenstände angebracht war, die nun aber leer waren. Sie trat hinaus in die Frühlingssonne und schloss kurz zufrieden die Augen, ehe sie über den Platz lief, um ihrem heimlichen Schwarm zu begegnen.
„Drakon!“, rief sie und angesprochener hielt inne. „Aya?“, sagte er nur, während er seine Übungen nicht unterbrach. „Was Neues vom Aufklärungstrupp?“
„Nein. Viel gewöhnlicher: Es gibt Essen.“ Nun hielt er doch inne, sah hinauf zur Sonne und stellte verdutzt fest: „Schon?“ Er schien noch kurz nachzudenken. „Ich hab Tischdienst, hu?“ Aya grinste und kicherte dann. „Hattest.“ Drakon ließ die Arme sinken, die er eben noch zum Kampf erhoben gehabt hatte. Er schnalzte mit der Zunge und wendete den Blick seitlich nach unten. Wie Süß er schon wieder war! „Verdammt!“
„Ares wird nicht erfreut sein.“, erklärte sie und Drakon sah finster zu ihr herüber. „Ja… Toll!“
„Warum hast du mir nicht eher bescheid gesagt?“
„Lernen durch Schmerz.“ Unzufrieden grummelte er irgendwas und zog sich sein Hemd wieder an, was er bis eben noch ausgezogen gehabt hatte. Er stieß die Luft aus und stellte fest, dass er wirklich mächtig Hunger hatte!
Gemeinsang gingen sie in den großen Speisesaal und waren sogar noch vor einigen anderen da. Ares kam zuletzt und ging an seinen 14 Schützlingen vorbei. Ehe er bei Drakon stehen blieb, der hartnäckig auf den Tisch starrte. Selbst als der große Mann, mit den schon grau werdenden Haaren hinter ihm stand und die Arme verschränkte, sah er weiter auf den Tisch. Dario amüsierte sich schon köstlich, was er aber nicht nach außen zeigte.
„Drakon!“ Angesprochener erhob sich, sah stur gerade aus und antwortete: „Ausbilder Ares!“ Einen Moment noch wartete der gestandene Krieger, der nur noch ein Auge hatte, während sich über sein linkes eine dicke Narbe zog, die von der Schläfe bis hinab zur Unterlippe reichte und aus drei unterschiedlich langen, aber ebenmäßig tiefen Klauenwunden bestand. Erst als Drakon es nur ganz kurz wagte in das hässliche Gesicht zu blicken, fing er an zu grinsen. „Ich habe gehört, du hast dich heute freiwillig fürs Zwiebeln schälen gemeldet.“ Drakon kniff die Lippen zusammen und sagte schließlich: „Äh… Ja, scheint wohl so!“ Ares grinste nun breiter. „Schön! Heute Abend wird es nämlich Zwiebelsuppe geben!“ Drakons Augen weiteten sich leicht und er blickte verwirrt zu Ares hinüber. „Aber es sollte doch Erbseneintopf geben!“ Einige Rekruten senkten den Blick, wobei einige grinsten und andere nur mit dem Kopf schütteln.
„Also willst du sagen, ich irre mich?“, fragte Ares nun und Drakon sah wieder geradeaus und meinte keck: „Ja, das wollte ich damit sagen.“ Eine junge Rekrutin schlug sich die Hand vor die Stirn. „Nun… Ich irre mich nicht. Und weil das so ist und du scheinbar gefallen daran findest, Fehler aufzudecken, die nicht existieren, möchtest du vielleicht in die Küche gehen und den Koch fragen, hm?“
Die Küche war nicht weit weg, aber eigentlich hatte Drakon wirklich keine Lust dazu. Er sah auf den Tisch zu seinem Teller und ahnte schon das Schlimmste. Er sah zurück in das finstere Gesicht von Ares und seufzte. „Jetzt!“, befahl dieser und Drakon schlug sich mit der Rechten auf die Brust, neigte den Kopf leicht und sagte: „Jawohl!“ Damit verschwand er.
„Der Rest, darf jetzt Essen!“
Und das bedeutete: schnell sein. Denn sobald Ares fertig wäre, würde abgeräumt werden. Aya seufzte leise. Sie wusste genau, dass Drakon es nicht rechtzeitig zurückschaffen würde. Alle anderen – auch sie – schaufelten nun rein und tatsächlich kam Drakon gerade zurück, als Ares aufstand und somit war das Essen ausgefallen. Er stellte sich zu Ares und sagte nun leise: „Ihr hattet Recht.“ Ares grinste. „Womit?“ Drakon sah ihm finster entgegen und knirschte: „Zwiebelsuppe…“ Ares grinste nur weiter und verließ den Raum. So viel dazu. Es würde die Hölle werden. All die Zwiebeln schälen und schneiden. Aya kam zu ihm und boxte ihm gegen die Schulter. „Du solltest ihm nicht immer widersprechen.“ Drakon sah sie von oben herab an und stieß die Luft aus, ehe er sich in den Vorratsraum begab. Dario kam zu Aya und feixte. Dann sagte er: „Na? Was hab ich gesagt? Nicht gerade die hellste Kerze auf dem Kuchen, hu?“
„Ach sei doch still!“, meinte sie nur und sah Drakon hinterher.